Das Marketing im Wandel

Wer heute unternehmerischen Erfolg haben will, muss sich auch mit den «elektronischen» Chancen und Risiken auseinandersetzen. Diese Situation erfordert ein neues Marketingverständnis in Richtung von «Customer Relationship Marketing» (CRM). Dieses erlaubt die konzeptionelle und faktische Integration von Marketing und Informationstechnologien.

In den heutigen Wettbewerbsrealitäten steigen die Anforderungen an das Marketing einer einzelnen Unternehmung:

  • Die Kunden suchen vermehrt Kauferlebnisse, authentisch kombiniert mit ihren Erfahrungen: Reine Leistungen genügen nicht mehr, weil sie nicht vorgeführt, sondern nur geliefert werden und weil sie nicht zum Ziel haben, unvergesslich zu sein. Erlebnisse, genannt Experiences, sind das ökonomische Gut, nach dem Kunden heute streben (Experience Economy). Dieser Trend zwingt (Dienstleistungs-) Industrien dazu, ihre Leistungen immer erlebnisorientierter zu gestalten: Essen wird so zum Eatertainment, Einkaufen zum Shoppertainment.
  • Die Zeitökonomie fördert in Consumer- wie in Business-to-Business-Märkten das One-Stop-Shopping zwecks Reduktion von Koordinations-, Such- und anderen Transaktionskosten.
  • Der Kunde erwartet vermehrt Leistungen, welche exakt seinen Wünschen entsprechen. Dies erfordert eine individualisierte Leistungserstellung (Mass Customization) und starke Integration des Kunden in die unternehmerische Wertschöpfungskette.
  • Der einzelne Kundenkontakt entwickelt sich zum kontinuierlichen Prozess: «The 24 hours never satisfied customer».

Der Handel im Netz
Die elektronischen Märkte werden diesen Anforderungen teilweise gerecht:

  • Die Eintrittsbarrieren für Marktteilnehmer sind tief. Es ist absolut unerheblich, wo die Leistung erbracht und wo sie dann genutzt wird: Distanz, Kultur, Werte, Zeit usw. sind keine Markteintrittsbarrieren.
  • Der Markt ist sehr transparent. Der Vergleich von Produkten und Preisen nimmt zu, die Kundentreue ab.
  • Wegen tiefen Kommunikations- und Koordinationskosten sind die Kunden besser informiert und anspruchsvoller. Sie vernetzen sich, ihre Nachfragemacht steigt.
  • Neue Kundengruppen können auf Grund individualisierbarer Leistungen (Design, Einkaufszeiten, Informationen usw.) leichter erschlossen und befriedigt werden.
  • Auch diese Märkte bestehen aus Menschen, welche miteinander vernetzt kommunizieren und Wissen teilen.

Veränderungen durch E-Business
Die heutigen Trends im Electronic Business, als Form der Online-Nutzung interaktiver, digitaler Informations- und Kommunikationsmedien, zeigen auf, welche Veränderungen bevorstehen, wenngleich die Tendenzen heute noch recht heterogen anmuten:

  • Electronic Business kann als Marketingwerkzeug (www.tienda.maestrazgo.org) oder neues Geschäftsmodell (MP3.com) erstanden werden.
  • In den Business-to-Business-Märkten liegen die Einsparungsmöglichkeiten bei den Einstandspreisen und, ausgeprägter, bei den Prozesskosten (www.wmrc.com).
  • Die Bedeutung elektronischer Dienstleistungen steigt, sei es für Marktwissen (www.ciao.com) oder generellere Informationen (www.wissen.de).
  • Der angestammte Handel wird an der Entwicklung des Electronic Shopping (www.yellowworld.ch) nur wenig partizipieren.
  • Non-Profit-Organisationen werden zu neuen Anbietern (www.kanton.zh.ch).
  • Vom mobilen E-Business (M-Business) werden dank neuer Technologien (GPRS, UMTS) verstärkte Wachstumsimpulse erwartet.
  • Die «alte» und die «neue» Ökonomie konvergieren, sie verschmelzen sich.

In diesem Kontext steigen die Ansprüche der Kunden. Entscheidende Triebkräfte sind dabei nicht die Technologien, sondern das individuelle Verhalten: die Erwartungen hinsichtlich Leistungen und Preisen steigen. Einerseits verschwinden bisherige Marktteilnehmer, weil unternehmerische Wertschöpfungsketten verdichtet oder vereinfacht werden. Anderseits entstehen Potenziale von Branchenneuintegrationen, sei es auf Grund anderer Wettbewerbsverständnisse (Co-opetition), veränderter (Netzwerk-) Beziehungsformen (Electronic Corporation) oder mittels elektronischer Plattformen (Information Hubs).

Anforderungen an das Marketing
Das heutige Verständnis von Marketing im Sinne von «Customer Relationship Marketing», «One-to-One Marketing» oder «Beziehungsmarketing» kann durch folgende Aspekte charakterisiert werden:

  • Der Verkauf ist der Beginn, nicht das Ende einer Kundenbeziehung: «to create a customer» statt «to make a sale».
  • Der Kunde erwartet individualisierte Prozesse und Produkte.
  • Das Marketing orientiert sich an den langfristigen Kundenbeziehungen und -bindungen. Electronic Business erlaubt eine kostengünstige individualisierte Gestaltung dieser Kundenbeziehungen.
  • Die Beziehungen, nicht die Produkte, bestimmen die Marketing-Aktivitäten; die Beziehungsqualität prägt die Preispolitik.

Relationship Marketing rückt das Erreichen von Wettbewerbsvorteilen durch langfristige Kundenbeziehungen in den Vordergrund. Die stimmige Gestaltung dieser Beziehungen ist eine tragende Kompetenz. Das Beziehungsmarketing erfordert daher aus strategischer Sicht eine einmalige Positionierung der Unternehmung. Mit dem eher operativen Marketing-Mix sind die vielschichtigen Kundenbeziehungen zu gestalten.

Die Produktpolitik wird durch die Leitvorstellung geprägt, dass Interaktionen den Wert einer Leistung bestimmen: Die vielschichtigen Dimensionen der Beziehungen
(Design, Leistungen, Marke, Vertrauen usw.) führen zum Verständnis der unternehmerischen Leistung als ein (modulares) Leistungsbündel (Mass Customization). Für die Gestaltung dieses Bündels wird der Endkunde vermehrt in den Wertschöpfungsprozess integriert. Im Sinne eines Co-Design konfektioniert er Produkte wie Fahrräder, Kleider oder Musik für sich auf dem Internet. Die Individualisierung von Produkten und Leistungen gestaltet sich dabei um so einfacher, je digitalisierbarer eine Leistung ist (Musik, Spiele usw.). Die Individualisierung und die Integration erlauben, verwoben mit einem Loyalitäts-Programm (E-Miles) und unterstützt von einem Customer Care Center, eine verstärkte Kundenbindung.

Lernen vom Kunden
Die übergeordnete Zielsetzung der Kommunikationspolitik ist das «Lernen vom Kunden»: Die kundenindividuellen Dialoge zielen nicht primär auf Produkt-, sondern auf Beziehungsmerkmale (Anfragen, Beschwerden, Engagement usw.).

Im Electronic Business verändert sich der Kommunikationsprozess: In der elektronischen Kommunikation verfügt der Kunde auf Grund seiner Initialaktivität inhaltlich, technisch und zeitlich über eine Verfügungsmacht. Das heisst, er ist per se primärer Kommunikator.

Die Macht als Kommunikator kann er durch die virtuelle Verknüpfung mit aktuellen oder potenziellen Kunden noch steigern: Er kann einen, für die anbietenden Unternehmungen nur schwer kontrollierbaren, Nachfrageverbund schaffen und etablieren.

In diesen «Räumen» gelebter Konsumentensouveränität entwickelt sich Electronic Business zur Interaktionsarena elektronischer Dialoge mit beinahe unbeschränkten, relativ kostengünstigen Individualisierungs- und Emotionalisierungspotenzialen. Der Einsatz von Electronic Business ermöglicht es auch etablierten Unternehmen, die Effektivität und die Effizienz ihres Marketings markant zu verbessern.

Die Preispolitik kann Börsen-ähnlich gestaltet werden. Reservationssysteme erlauben bereits heute Preispolitik-Konzepte, welche gleichzeitig die Erstellung von Kundenprofilen auf Grund des individuellen Such- und Kaufverhaltens ermöglichen. Diese personalisierten Daten ermöglichen eine verstärkte Kundenbindung im Sinne von Electronic Relations (Foren, Clubs usw.).

Leistungskonzepte überprüfen
Der tragende Leitgedanke einer Distributionspolitik ist die Individualisierung der Leistung, sinnvollerweise verknüpft mit Kostenreduktionen und gleichzeitig erhöhter Kundenbindung. Insbesondere digitalisierbare Leistungen fördern das Ausschalten von Wertschöpfungsstufen und die Integration des Endkunden in die primäre Wertschöpfung. Bei materiellen Leistungen kann der Vertrieb Logistikpartnern oder an Öffnungszeiten unabhängige Vertriebsformen wie «Pick-up-Centern» oder «Consumer-Response-Centern» übertragen werden.

Electronic Business prägt das heutige und zukünftige Verhalten von Kunden und Unternehmen. Es ist mehr als eine Kommunikations- und Distributionsform, da es das Kundenverhalten verändert und das Potenzial nachhaltiger Wettbewerbskräfte in sich trägt. Diese können Unternehmungen oder gar Branchen neu gestalten. Die Entstehung neuer Wettbewerbskräfte und -dynamik erfordert die Überprüfung der Leistungskonzepte, eine eindeutige Positionierung und die Umsetzung eines stimmigen Marketings.

Von H.P. Wehrli