Hundertmal abgecheckt - Misserfolg garantiert

Wer kennt nicht die Forderung, die zuweilen schon wie eine Beschwörung anmutet, dass Management und Mitarbeiter selbständig denken und risikofreundlich handeln sollten? Und dies, bitte schön, auf allen Stufen. Aber: Ist das nicht selbstverständlich? Sagt doch der gesunde Menschenverstand, dass gut ausgebildete und erwachsene Menschen in der Regel eigenständig denken, handeln und entscheiden. Doch ist der gesunde Menschenverstand auch betriebliche Praxis? Oh doch, und gerade deswegen findet das selbständige Entscheiden zuwenig statt. Schliesslich ist niemand blöd, und in der real existierenden betrieblichen Praxis lohnte es bislang eher "still und fleissig" zu sein, sich wenig zu exponieren und geringes Risiko einzugehen. Ein risk management der besonderen Art. Warum?

Manche Unternehmen erinnern mich an die letzte Rede Friedrich Dürrenmatts vor seinem Tod, in der er die Schweiz mit einem Gefängnis verglich, in das sich die Schweizer flüchteten, weil sie sich nur dort sicher wähnten. Um sich jedoch in diesem Gefängnis weiter frei fühlen zu können, wurde die allgemeine Wärterpflicht eingeführt, und jeder Gefangene wurde sein eigener Wärter.

Schaut man in Firmen hinein, so erkennt man die Sicherheitsmassnahmen sofort. Hierarchische Stufen sichern Positionen und Rollen und definieren die Grenzen des Denken und Entscheidens. Funktionale Zellen sorgen dafür, dass jeder Schuster bei seinen Leisten bleibt, seine Arbeit macht - und um Gottes Willen nicht mehr. Dies führt zu den vielfältigsten Formen des gegenseitigen Absicherns und Bewachens, und der Geist der qualitativ anspruchsvollen Formen schafft eine Perfektion in der Risikobegrenzung: die Risikolosigkeit.

Unternehmertypen, die ihre Ideen verwirklichen wollen und dafür Risiken eingehen, haben es in diesen Strukturen, in denen Führungskräften selbst in obersten Rängen "die Hände gebunden sind" und die sich zuweilen "eingesperrt" fühlen, schwer. Sie müssen, wollen sie in diesen Strukturen Karriere machen, sich entscheiden für das "risk management" oder eine "save your ass" Politik, wie es Jack Welch, der CEO von General Electrics einprägsam formulierte, und diese auch beherrschen.

Buckelwale im Management
Eine beliebte risk management Strategie erinnert mich an Buckelwale. Buckelwale sind bewegliche, hochintelligente und kommunikative Meeressäuger, die zielstrebig die Meere durchqueren. Die Kommunikation ist sehr wichtig, denn sie dient ihnen zur Orientierung; ihre Walgesänge sind Legion und auf CDs zu bewundern. Dank ihrer besonderen Kommunikationsfähigkeit können sie "im Team" gut kooperieren, z. B. indem sie gemeinsam Heringsschwärme einkreisen und ausbeuten, sich aber auch konkurrenzieren.

Wie? Sie produzieren sogenannte Blasenvorhänge, Wolken von Sauerstoffbläschen. Hinter diesen Vorhängen können sie in der Verteidigung unentdeckt verschwinden oder aber auch angreifen. Diese ausgezeichnete Fähigkeit, die Sicht zu trüben und Nebel zu erzeugen, also Unklarheiten produzieren, hat den Vorteil, dass im "Team" gegenseitige kollegiale Deckung, aber auch Schonung möglich ist. Man tut sich nicht unnötig weh und belastet sich nicht unnötig.

Das heisst: Manager können gut miteinander reden und im als riskant erachteten Moment den Mund halten bzw. unklar kommunizieren und Nebel erzeugen. Gut eingeübt ist etwa das Verfahren anlässlich einer anstehenden heiklen Entscheidung eine Expertenkommission den Sachverhalt nochmals gründlichst prüfen zu lassen, um "dann darüber in Ruhe zu reden". Auf diese Weise schützen sie sich davor, sich mit einem riskanten Entscheid zu exponieren, gelten dabei als weitsichtig und verantwortungsvoll, und allen Beteiligten ist gedient. Ein möglicher Entscheidungs-kampf, der einen Konsens aufs Spiel setzen würde, durch den jeder seinen ohnehin schon kleinen Freiraum gefährdet sähe, bleibt allen erspart. Es bleibt immer wieder offen, wie wer wirklich denkt, fühlt und handelt. "Man hält sich bedeckt, und jeder spielt seine Karte".

Ein intelligentes risk management. Auf diese Weise kann eine Kollegialität, das "Team", aufrechterhalten werden, und damit oft verknüpft die Arbeitsfähigkeit. Diese Kompetenz, zu unterscheiden, wer was wann zu wem sagt und nicht sagt (!), ist die hohe Kunst der Risikobegrenzung bzw. -vermeidung. Die Meister machen Karriere.

Es kommt zu "Entscheiden", an die sich niemand hält, oder zu stillen Uebereinkünften ohne formalen Entscheid. Es kommt auch kaum zu Entscheiden darüber, was man nicht macht. Das wäre schon wieder zu klar. Soll der status quo erhalten bleiben um der Stabilität willen, langt es, gar keine Entscheide zu fällen. Das Ende von Projekten, oft Veränderungsprojekten, kann elegant eingeläutet werden bei weiterem verbalen Sponsoring.

Was wird gesichert?
Das Büro mit dem Perserteppich, die eigene Sekretärin, das eigene Produktbaby, das Privileg höchst vertrauliche Unternehmensziele und -strategien zu kennen, die nur an das obere Kader addressierten numerierten Leitbilder, die Tradition usw.

Aber aus Furcht, im "Gefängnis" nicht sicher zu sein, wird auch die eigene Sicherheit bewacht: vor den Mitarbeitern, den Kollegen, dem Chef und vor sich selbst. Vor der "Entlassung", dem Versagen, dem Gehalts- oder Imageverlust, usw. Die stille Ahnung, dass es so wie bislang nicht ewig weiter gehen kann, verbunden mit der nagenden Angst vor dem Ungewissen, darf nicht laut werden. Die noch verdeckbare Vermutung, dass die eigenen Fähigkeiten begrenzt sind, begrenzt in der Veränderbarkeit, könnte zur nicht nur persönlichen Einsicht werden, und - das hätte möglicherweise Folgen. Dieses Risiko muss vermieden werden, und dies kann in einen Teufelskreis münden. Wie? Die Vermutungen werden aus Angst nicht getestet und deshalb auch nicht widerlegt. Der Teufelskreis dreht weiter. Auf der Grundlage vermiedener Tests wird geschlossen, daß die Fähigkeiten begrenzt sind. Weitere Untätigkeit ist die Folge, denn die Furcht vor dem Scheitern wirkt. Sie schränkt die Fähigkeiten weiter ein.

Das Risiko, das fragile Selbstwertgefühl und die Zukunftserwartungen zu erschüttern, erscheint zu gross. Nur keine Störungen bitte, etwa von "schwierigen" Kunden, "respektlosen" Mitarbeitern (Meuterei?), dem "naiven Neuling, der noch nicht weiss, wie es bei uns tatsächlich läuft", oder mitdenkenden Kollegen (Rivale?). Denn die gesicherte Zukunft könnte sich sonst als Placebo entpuppen.

Weitere bekannte Sicherungsmechanismen sind Unterschriftsprozeduren und viele andere Regulierungen, aber auch die Aberkennung des Rechts auf Irrtum, Bevor etwas neues ausprobiert wird, werden sorgfältigste Diagnosen erstellt. Mit Millionen sichert man sich bei Beratern ab, da man den eigenen Kompetenzen nicht traut oder eine "sichere Keule" braucht. Konzepte werden zu 300% abgecheckt, tausend Bedenken werden neuen Ideen gegenüber hervorgebracht, und unzählige Leute in der Hierarchie geben ihre Zustimmung oder Meinung dazu. Als hielte die Welt so lange still! Und als könne man es sich leisten, denn wieviel Zeit verbringen teuer bezahlte Führungskräfte mit diesen Kontrollen? Der potentielle Schaden ist begrenzt - der Erfolg auch.

So wie der Lärm in den Meeren infolge der Oelbohrungen und der Schiffahrt die Kommunikationsstrategien und die Orientierung und damit die Ueberlebensfähigkeit der Buckelwale zunehmend, so stellt sich die Frage, ob diese "risk management" Strategien zukunftsfähig sind.

Wissen gewinnt
In der heutigen Wissensgesellschaft erwirtschaften jene Unternehmen die höchsten Gewinne , die am meisten strategisch relevantes Wissen produzieren. Die "Microsofts", Wal-Marts oder McKinseys sind anschauliche Beispiele. Was bedeutet dies? Unternehmen müssen in Zukunft vor allem kommerzialisierbares Wissen produzieren. Darin liegt die grosse Herausforderung. Das für die Entwicklung neuer Software förderliche Umfeld zu organisieren und zu managen ist die wichtigste Aufgabe. Einen neuen Werkstoff zu entwickeln, darin liegen die Zukunfts-möglichkeiten (wenn sie nicht verschlafen werden) und nicht in der Produktion von Schrauben. Aber wie wird Wissen "produziert"? Sind Buckelwalstrategien für das Entwickeln von Wissen förderlich? Wohl kaum, sonst wären wir nicht im Jammertal mangelnder Innovation.

Unternehmen müssen sich zu "Labs" wandeln, dann können sie der neuartigen Komplexität von "Wissen" gerechter werden.Was passiert dort? In erster Hinsicht wird leidenschaftlich nach Neuem gesucht, experimentiert, ausprobiert, getestet, denn Wissen entsteht vor allem aus Versuch und Irrtum. Es werden Versuche mit Disziplin geplant und durchgeführt, die Ergebnisse, seien es Erfolge oder "Misserfolge", reflektiert, Vorstellungen getestet und Prototypen gebaut bzw. simuliert um Ideen zu verbildlichen und fassbar zu machen.

So manche bahnbrechende Innovation entstand auf diese Weise, nicht nur Penicillin oder Valium, sondern auch das von den Schreibtischen nicht mehr weg zu denkende Post it oder der Walkman. Es waren unerwartete Ergebnisse, vermeintliche flops, die jedoch, da richtig erkannt, zu neuen lukrativen Möglichkeiten führten.

Das Selbstverständnis des Unternehmens als Lab ermöglicht eine andere Sicht auf die täglichen Aktivitäten. Während der "Praktiker" bislang meist glückliche, unbeeinflussbare Zufälle sieht -oder auch nicht-, die er ausnutzen kann (wenn er weiss wie), sucht und erkennt der "Experimentierer" neue Gesetzmässigkeiten. Eine Dynamik der unternehmerischen Kreation (statt der Fehlervermeidung) entsteht. Sie wird gestützt durch eine positive Einstellung gegenüber vermeintlichen Fehlern, die Ueberraschungen und "Fehler" produziert, um sie zu kommerzialisieren. Fragen wie: Was bedeuten sie? Wozu sind sie eventuell dienlich, jenseits des bisherigen Vorhabens oder Ziels? helfen dabei. Wohlgemerkt: dies hat nichts mit " fröhlichem Chaos" zu tun, wenn auch die aufkommende Freude, Neugier und lockere Atmosphäre nicht schadet.

Fahren im Neuschnee
Denn diese Prozesse werden nicht durch hohe Regelungsdichte und Blasenvorhänge gemanagt. Es ist die zielstrebige Auslotung von unbegangenen Bahnen in neue Territorien, die die Dynamik steuert. Es ist wie "Fahren im Neuschnee". Dies ist zwar schwieriger und anstrengender als auf markierten, gut präparierten Pisten, hinterlässt aber sichtbare Spuren mit einer ästhetischen Einzigartigkeit. Fehltritte, unerwartete Perspektiven, Wetterumstürze, kurz Ueberraschungen werden antizipiert. Man ist auch bereit, auf die Nase zu fliegen und bis auf die Haut nass zu werden. Das ist mental vorgesehen und managebar.

Selbstverständlich braucht es in Unternehmen nach wie vor routinierte und standardisierte Tätigkeiten, mit determinierbaren Ergebnissen, und möglichst ohne Ueberraschungen. Aber Neuschneefahren ist ja auch nicht jedermanns Sache, und das ist gut so. Bloss, wer ist heute überhaupt bereit, derartige Anstrengungen und Risiken einzugehen, aus- und durchzuhalten und ggf. zu leiden? Die Ferienwohnung ist schon für nächsten Februar in der Lenzerheide gebucht, Unsicherheiten sind nicht willkommen, und so fahren alle auf abgefahrenen Pisten, bis die Steine nicht mehr zu umfahren sind, oder das blanke Eis durchkommt, oder die Abfahrten schlichtweg so überfüllt sind, dass Stürze unausweichlich werden.

"Gefangene" oder "Wärter" tun sich schwer mit Abweichungen von angeschriebenen Wegen, und Blasenvorhänge trüben die Sicht für offene, klare Antworten. Aber neue Perspektiven, die zu neuen Ideen führen, entstehen selten a) immer auf der gleichen Route und b) im Nebel der Blasenvorhänge. Unternehmen müssen dereguliert werden, damit Freiheiten einziehen und neue Risiko-Strategien gelernt werden, denn der Preis der Freiheit ist die Verantwortung.

Wodurch zeichnen sich "Labs" aus?

  • sie bieten sinnstiftende und attraktive Aufgaben
  • es wird mit grosser Disziplin komponiert, improvisiert, experimentiert
  • die Ergebnisse und Vorhegensweisen werden reflektiert
  • die Neugier und Phantasie führen Regie und nicht nur die Finanzen
  • sie fördern die Autonomie statt die Infantilisierung, die zur verlängerten Pubertätskrise führt
  • sie bieten Sabbaticals zur regelmässigen Aufladung von KnowHow statt Behandlung von burn outs
  • sie sichern die Perspektiven des Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt und nicht den Arbeitsplatz, indem die Aufgaben die individuelle Professionalität weiterentwickeln.
  • sie funktionieren nach dem Vertrauens- und nicht nach dem Geheimdienstprinzip
  • es wird hart an der Sache debattiert und engagiert um Meinungen gestritten
  • Ideen sind wichtiger als Politics

"Neuschneefahrer" erkennen wir daran:

  • sie können Skifahren,
  • suchen und brauchen das Gefühl der Freiheit,
  • sind diszipliniert,
  • überwinden durch sorgfältige Vorbereitung ihre Angst,
  • können das Machbare einschätzen
  • können mit Unsicherheiten gut umgehen,
  • zeigen Durchhaltevermögen,
  • sind locker in den Knien um Unerwartetes besser abfedern zu können,
  • sind bereit auf die Nase zu fliegen und nass zu werden
  • Haben passionierte Freude am Unberührten
  • haben Willen zur eigenen Spur

von Betty Zucker