Vorsprung durch Virtualisierung - Lernen von virtuellen Pionierunternehmen

Das Adjektiv "virtuell" hat sich in letzter Zeit zu einem wahren Modewort entwickelt. Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht mit Begriffen wie virtual Shopping, -banking, -learning oder virtuelles Unternehmen konfrontiert werden. Der Cyberspace scheint die reale Welt zu erweitern und ein neues Verständnis von Raum und Zeit zu eröffnen.

Für die Betriebswirtschaftslehre steht die Optimierung der Wertschöpfung im Mittelpunkt. Pionierunternehmen, wie z.B. Nintendo, Dual, Euregio, Cargo Lifter Rauser Advertainment belegen bereits, dass ein Wettbewerbsvorsprung durch virtuelle Netzwerke generiert werden kann.

Digital ins dritte Jahrtausend
Bill Clinton will bis zum Jahr 2000 in jedem Klassenzimmer einen World Wide Web zugriffsfähigen PC stehen haben. 12 % der europäischen Haushalte besitzen bereits heute onlinefähige PCs. Das geschätzte Marktwachstum für die nächsten drei Jahre liegt bei über 100 %. Die Forschungskommission der europäischen Union stellt ein gutes Viertel ihres Budgets (ca. 12 Milliarden ECU) für die Bereiche Informationstechnologie und Telematik bereit. Die Internet-Technologie erobert Unternehmen im Sturm: 60 % der amerikanischen Firmen betreiben bereits ein Intranet und 3o Prozent planen dies 1999 zu tun. In lediglich drei Jahren hat sich das WWW zu einer Kommunikationsplattform entwickelt, über die neben Emails und Programmen auch Telefonate und Faxe ausgetauscht werden können. Schon in naher Zukunft wird der Computer zum Telefon, der Fernseher zum Online-PC und das Handy zum digitalen Assistenten.

Die Praxis gibt das Tempo vor - Virtualität auf Vormarsch
Wer glaubt, dass virtuelle Unternehmen das Ergebnis theoretischer Hirngespinste darstellen, der irrt gewaltig. Gemäss einer Studie von Andersen Consulting und Economist bei 350 Top Managern führender Unternehmen ergab sich, dass 40% ihr Unternehmen bis in das Jahr 2010 als Teil eines gross angelegten Unternehmensnetzwerkes sehen. Bei den Klein- und mittelländischen Unternehmen könnte dieser Anteil noch erheblich höher liegen. Beobachtet man die Umstrukturierungs-entwicklungen der europäischen Industrie, so zeigt sich für die nächst Dekade Ein kontrastiertes Bild. Die Grossen akquirieren, der Mittelstand kooperiert. Virtuelle Unternehmensnetze bilden die Basis effizienter Wertschöpfung.

Zahlreiche Pionierunternehmen unterschiedlichster Branchen belegen die Potentiale virtueller Akteure.
Ergebnisverantwortliche Systempartner ermöglichen bei der Kooperation von Mercedes und Swatch (MCC von Smart-Car) intelligentes Investment- und Risiko-Sharing. Der Smart entstand mit Hilfe eines virtuellen Netzwerks in den Bereichen Entwicklung, Finanzierung, Produktion und Logistik. MCC kümmert sich um Planung, Koordination und Qualitätssicherung; die Partner übernehmen die Fertigung.

DUAL gelang es den Turn-around von der Fast-Involenz hin zum innovativen Unternehmen mit ca. 70 Millionen DM Jahresumsatz zu schaffen. Dies wurde durch Fokussierung auf Projektkoordination, Marketing und Qualitätssicherung möglich. F&E, Konstruktion Produktion, Marketing und Verkauf sowie Liefer- und Beratungsleistungen werden von einem Netzwerk aus 25 ergebnisverantwortlichen Partnerfirmen übernommen. DUAL selbst hat nur noch vier Festangestellte.

Instutionalisierte Virtualität finden wir im CIM-Center Aargau, einem Zusammenschluss mehrheitlich mittelländischer, rechtlich unabhängiger Unternehmen. Diese bilden einen Unternehmenspool, aus dem bei spezifischen Aufträgen eine zeitlich begrenzte Virtuelle Fabrik konfiguriert wird. Dabei bringt jedes Unternehmen seine Kompetenzen ein, für die es marktführend ist. Bei der Virtuellen Fabrik handelt es sich um einen dynamischen Produktionsverbund, der je nach Kundenwunsch als ad-hoc-Organisation entsteht und gegenüber dem Kunden wie eine reale Fabrik auftritt. Nach Beendigung des Auftrags löst sich der Verbund wieder auf.

Die schweizerische Werbeagentur Peter Marti arbeitet mit einem offenen Netzwerk aus bis zu 100 Freelance-Partnern. Von einem kleinen Büro koordiniert Peter Marti die Erstellung von Werbekonzepten. Seine Partner sind weltweit verteilt. Akquisition, Produktion und Vermarktung finden grösstenteils über globale Datennetze statt. Pro Kundenauftrag bildet sich eine virtuelle Partnerschaft auf Zeit, welche sich nach der Auftragserfüllung wieder auflöst.

Betrachtet man die Erfolgskriterien dieser Unternehmen, lassen dich entscheidende konstituierende Merkmale lokalisieren.

Erfolgskriterien virtueller Partnerschaft

  • Zeit- und Standortunabhänigkeit der arbeitsteiligen Aufgabenbewältigung
    Das Poolen der Ressourcen erfolgt standortungebunden, ohne Berücksichtigung regionaler Grenzen. Die Zusammenarbeit ist temporär ausgerichtet, beziehungsweise basiert auf einer erwarteten Endlichkeit
  • Offenheit und Flexibilität
    Im Vergleich zu klassischen Formen unternehmensübergreifender Zusammenarbeit ist die Partnerschaft in virtuellen Unternehmen wesentlich weniger formal und eröffnet somit die Chance auf flexible und auftragsorientierte Leistungserstellung (Losgrösse 1).
  • Problembezogene, dynamische Kompetenzbündelung und -Vernetzung
    Jeder beteiligte Netzwerkpartner bringt seine kompetitiven Kernkompetenzen in das virtuelle Unternehmen ein, so dass eine best-of-everthing-organization auf Zeit entsteht.
  • Neudefinition von Marktregeln
    Durch zunehmende Virtualisierung erodieren traditionlle Branchengrenzen. Rollen einzelner Marktteilnehmer, inklusive des Wegfalls ganzer Handelsstufen, werden neu definiert und innovative Produkt- und Dienstleistungspakete entstehen.
  • Win-win-Orientierung
    Der Kunde hat nur einen Ansprechpartner und erhält dank optimaler Wertschöpfung einen maximalen Kundennutzen in qualitativer als auch kostenorientierter Hinsicht. Die Netzwerkpartner können ihre Kernkompetenz einbringen und an einer Vielfalt von Aufträgen partizipieren, welche sie selbst nicht hätten abwickeln können.
  • Konsequente Nutzung globaler Datennetze
    Weltweiter Datenaustausch ist erst seit der kommerziellen Nutzung des World Wide Web möglich geworden. Für das Funktionieren firmenübergreifender, temporärer Netzwerkverbünde stellen effiziente elektronische Kommunikationskanäle den Lebensnerv dar. Flexibler unternehmensinterner Wissenstransfer ist ohne Internet kaum mehr denkbar.

Das Kontinuum der Virtualität
Interessanterweise stellen vorhergehende Beispiele keine Einzelfälle dar. In immer mehr Bereichen gelingt dank virtueller Unternehmensstruktur eine deutliche Effizienzsteigerung. Unsre Recherche ergab dabei ein differenziertes Bild bezüglich der Einsatzmöglichkeiten virtueller Wertschöpfung. Zwölf teilweise nicht überschneidende Grundformen sind zur Zeit erkennbar:

Der Virtual Marketplace zeichnet sich durch, über das Medium Internet angebotene, Kommunikations- und Informationsleistungen mit kommerzieller Nutzung aus. Weltweite Angebots- und Nachfragebeziehungen werden möglich. Stichworte sind: Virtual shopping, - banking, - learning, virtuelle Messen, - Museen, - Verlage, - Werbeagenturen, usw.

Virtual Reality ist die Simulation realer Entwicklungs- und Produktionsabläufe im Cyberspace. Haupteinsatzgebiete stellen das virtuelle Prototyping sowie die virtuelle Arbeits- und Produktionsplanung dar.

Intraorganisationale Netzwerke umfassen sowohl das weite Feld der Heim- und Telearbeit als auch die Knowledge-Netze mit Hilfe von Wissensdatenbanken. Gemeinsames Merkmal ist die Vernetzung einzelner Mitarbeiter durch modernste IuK-Technologie.

Das Spektrum interorganisationaler Netzwerke stellt sich differenziert dar. Firmenbeispiele deuten an, was wir von virtuellen Pioneerunternehmen lernen können:

  • Modulares Netzwerk auf Zeit: Die Kooperation von VW-Resende mit acht Zulieferern zeigt, wie mit modularen, voll ergebnisverantwortlichen Systempartnern Investment- und Risiko-Sharing betrieben werden kann. Und innovative Wege der Vermarktung realisiert werden.
  • Zeitlich befristetes Netzwerk zur Einzelauftragsabwicklung: Die Baden Württembergische Abfallberatungsagentur (ABAG) bildet pro Spezialauftrag das geeignete Prolemlösungsteam. Sie zeigt somit, wie mit geringem Festpersonal auch im öffentlichen Bereich effiziente Auftragserfüllung möglich wird.
  • Zentral gesteuertes Sourcing-Netzwerk: Von Nintendo und Dual können wir lernen, wie mit Hilfe eines weltweiten, kurzfristig austauschbaren Netzwerks aus Partnerfirmen sowie durch Fokussierung auf eigene Kernkompetenzen, die Überlebensfähigkeit des eigenen Unternehmens sichergestellt werden kann.
  • Zweckorientierter Netzwerkverbund: Die Airline-, aber auch Automobilindustrie demonstriert, wie mit virtuellen Kooperationen intelligente, marktbezogene Gesamtlösung angeboten werden können.
  • Langfristig orientierter Netzwerkpool : Das regional ausgerichtete Netzwerk Euregio illustriert die ad-hoc-Bildung von auftragsorientierten virtuellen Fabriken aus einem Netzwerkpool. Vertrauen und gemeinsame Werte stellen das zentrale Element der Partnerschaft dar.
  • Interdisziplinäres Wissensnetzwerk: Die taiwanesische High-Tech-Firma Startek zeigt beispielhaft, wie durch den Aufbau eines Wissensnetzwerks und konsequente Konzentration auf produktrelevantes Know-how eine Weltmarktstellung erlangt werden kann.
  • Netzwerk für Grossprojekte: Vom (Entwicklungs)-Netzwerk zum Bau des weltweit grössten Lufttransportschiffes Cargo-Lifter lernen wir, dass eine visionäre Idee sowie globales Ressourcen-Pooling die effizienteste Art zur Umsetzung von Grossprojekten darstellt.
  • Ad-Hoc Dienstleistungsnetzwerk: Die virtuelle Werbeagentur "Peter Marti" und Rauser Advertainment in Reutlingen stehen exemplarisch für Dienstleistungsunternehmen mit digitalisierter Wertschöpfung. Diese Netzwerke aus weltweiten "best-in-class-Partnern" erbringen die gesamte Leistungserstellung - von der Produktidee bis zur Vermarktung - auf den globalen Datennetzen.

Die Funktionsweise der Leistungserstellung orientiert sich an folgender Mechanik:
Ausganspunkt ist ein marktbedingter Lundenauftrag, zu dessen Erfüllung sich aus dafür geeigneten Wertschöpfungspartnern das virtuelle Netzwerk bildet.

Alle beteiligten Partner stellen, basierend auf ihren Kernkompetenzen, geeignete Ressourcen (Personal, Material, Management, Finanzmittel etc.) zur Verfügung.

Information und Kommunikation werden mit einer EDV-technischen Vernetzung optimiert; somit kann der Kundenauftrag schneller, besser, billiger und flexibler erfüllt werden. Für weitere Aufträge konstituieren sich aus dem vorhandenen Unternehmenspool andere virtuelle Netzwerkkonfigurationen.

Ausblick
Die "virtuelle Welt" wird zu einschneidenden Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft führen. Im organisationalen Kontext werden virtuelle Wertschöpfungsnetzwerke nicht die einzige Organisations-form des 21. Jahrhunderts darstellen; als bestimmender Trend organisatorischer Entwicklung sind sie jedoch nicht mehr aufzuhalten. Nebst der Beantwortung vieler rechtlicher, technologischer, soziologischer, psychologischer aber auch betriebswirtschaftlicher Fragen scheint bereits heute sicher, dass

  • Es Grenzen des Grenzenlosen gibt, die wir rechtzeitig erkennen müssen;
  • Lehren aus der Geschichte zeigen, wie sich das technologisch Machbare durchzusetzen vermag und der Mensch aufgefordert ist, den sinnvollen Umgang mit neuen Technologien zu erlernen;
  • Die Revolution zur Informationsgesellschaft und die damit verbundene Digitalisierung der Wirtschaft unsere Unnternehmen nachhaltig beeinflusssen wird. Branchen verschwinden, neue entstehen kaum eine aber bleibt unverändert. Bisherige Kokurrenten werden punktuell zu Partnern.

Im Informationszeitalter kann es sich ein Unternehmen nicht mehr leisten eine ganz normale Firma zu sein! Die Handlungsspielräume, sich gegen Virtualisierung zu entscheiden werden immer enger.

"The lumbering bureaucracies of this century will be replaced by fluid, independent groups of problem solvers." Tom Peters