"Mein Lebensgenuss ist Staunen"

Hans Widmer, der ehemalige Chef von McKinsey und Oerlikon-Bührle, hat mitgeholfen, Tausende Stellen abzubauen. Nun beschreibt er in einem Buch das Modell einer menschengerechten Gesellschaft.

Sind wir Menschen eigentlich alle Egoisten?
Egoismus ist eine Zivilisationskrankheit. Im Menschen ist Altruismus angelegt wie in keiner andern Spezies. Sein Erfolg beruht ja auf Kooperation. Damit er das werden kann, was in ihm angelegt ist, muss er jedoch menschengerecht leben können.

In «Das Modell des konsequenten Humanismus» beschreiben Sie, wie ein menschengerechtes Gesellschaftsmodell aussähe. Warum haben Sie das Bedürfnis, uns die Welt zu erklären?
Die Welt ist sehr unübersichtlich geworden, dennoch müssen wir uns darin zurechtfinden. So wie es für den Uhrmacher hilfreich ist, zu verstehen, wie eine Uhr funktioniert, ist es hilfreich, wenn wir verstehen, wie die Welt funktioniert.

Sie befassen sich mit Philosophie, Physik, Gentechnik, Kultur und Religion. Sehen Sie sich als Universalgelehrten?
Ich bin kein Gelehrter, nur ein hartnäckiger Neugieriger, der einfach keine weissen Flecken in seinem Weltbild aushält.

Es leuchtet ein, dass Philosophie für die Gestaltung eines Gesellschaftsmodells wichtig ist. Warum aber Physik?
Ein Mitarbeiter des Berner Patentamts mit Vornamen Albert hat vor hundert Jahren die Idee entwickelt, dass Zeit und Raum verschwinden könnten. Probieren Sie diese Vorstellung einmal aus. Einsteins Berechnungen sind richtig, aber seine Deutungen nicht. Das wollte ich gerade stellen. Man braucht ein unerschütterliches Fundament, wenn man Menschen aufrütteln will.

Traktieren Sie deshalb die armen Leserinnen und Leser mit so vielen mathematischen Formeln?
Die armen Leser können mir auch einfach glauben, dass man alles verstehen kann. Wenn sie das aber nicht secondhand verstehen wollen, so können sie es prüfen. Immerhin stecken die Formeln im Anhang.

Eine Gesellschaft ist dann zweckmässig organisiert, wenn sie allen Mitgliedern die Möglichkeit eines erfüllten Lebens bietet, lautet Ihre These. Wie weit sind wir von diesem Glück für alle entfernt?
In der Schweiz herrschen, gemessen am Durchschnitt der Welt, bereits gute strukturelle Bedingungen. Damit wir uns wohlfühlen, fehlt es aber an Geborgenheit, an Willkomm, Förderung und Forderung. Unsere Wahlfreiheit im Alltag und beim Konsum ist der Gemütsentwicklung ein wenig davongelaufen. In andern Teilen der Welt ist der Weg noch weit, sehr weit – insbesondere was die Stellung der Frau angeht.

Was kann die Religion beitragen?
In jedem Menschen ist das Bedürfnis nach Zuversicht, ethischer Ordnung, Zusammengehörigkeit stark vorhanden, auch nach Ritualen, Ikonen, sakralen Orten: Das bedienen Religionen. Das Problem dabei ist der Anspruch der Alleinseligmachung. Was bedeutet, dass die Menschen ausserhalb der religiösen Gruppe nicht selig werden können. Würden sich Religionen als Varianten des reinen, wortlosen Religiösen in jedem Menschen verstehen – welcher Friede würde da herrschen. Immerhin hat Papst Franziskus ein ungeheures Signal in diese Richtung gegeben mit «Es gibt keinen katholischen Gott».

Welches ist in Ihren Augen die beste Staatsform?
Halten wir uns an Goethe: «. . . die uns lehrt, uns selber zu regieren». Konkret: direkte, subsidiäre Demokratie. Wenn Selbstbestimmung der Kern zur Erfüllung des individuellen Lebens ist, dann ist Mitbestimmung auf allen Stufen die logische Folge. Die Praxis bestätigt dies: Was ist die Schweiz doch für ein nach allen Kanten erfolgreiches Staatswesen. Solche Demokratien schliessen sich in einem Staatenverein nach Kant zusammen.

Sie waren Unternehmensberater und mitverantwortlich, Ideen wie den Shareholder-Value und die Gemeinwertkostenanalyse in der Schweiz zu verbreiten. Als Unternehmer haben Sie später mitgeholfen, Tausende von Stellen abzubauen – insbesondere bei Oerlikon-Bührle. Wie passt das zu Ihrem humanistischen Weltbild?
Stellen schaffen ist das Paradies – und abbauen die Hölle. Als Chef muss man in gewissen Situationen 1000 Stellen abbauen, um 10'000 Stellen zu retten. Das Hauptproblem ist der technische Fortschritt: Als alle CDs wollten statt Grammofonplatten und PCs statt Hermes-Schreibmaschinen, gingen in Yverdon in den Achtzigerjahren Tausende von Arbeitsplätzen verloren. Es braucht für solche Fälle soziale Netze, je globaler die Arbeitsteilung, desto tragfähigere. Das ist rascher gesagt als getan: Wer weiss, wer bedürftig ist und wer nur Trittbrettfahrer? Wer hilft, wenn der Mut sinkt? Wer richtet Ausgesteuerte auf?

Schweizer Manager haben wegen der Debatte um die Abzockerei ein schlechtes Image. Zu recht?

Einige zu recht. Sie treten ihre Stellen zwar möglicherweise zu vernünftigen Bedingungen an, aber dann werden sie unverschämt. Der Grund ist, dass sie durch ihre Wahlvorschläge für den Verwaltungsrat quasi ihren Vormund selber wählen. Die auf diese Weise abhängigen Verwaltungsräte stimmen zu, um ihre Tantiemen zu sichern.

Ist das Problem nun mit der Minder-Initiative gelöst?
Die Annahme der Minder-Initiative war ein Aufschrei der Bevölkerung, ein Signal der totalen Missbilligung, jedoch löst sie das Problem nicht. Im Gegenteil: Wenn die Generalversammlung den horrenden Bezügen zustimmt, werden diese demokratisch legitimiert. Was es braucht, ist ein Verwaltungsrat, der sich selber konstituiert, keinerlei Gewinnbeteiligung hat, sondern als unabhängige Instanz aus senkrechten Männern und Frauen Aufsicht über das Treiben des Managements ausübt. Der Präsident stellt sich vor dem Konzernchef auf und fragt: Herr Vasella, welches ist Ihr Beitrag zum Gelingen nächstes Jahr – und wie unersetzlich ist dieser Beitrag?

Bleiben wir beim Beispiel von Daniel Vasella, obwohl er ja nicht mehr im Amt ist. Was passiert, wenn er sagt: «Die ausländische Konkurrenzfirma zahlt mir 10 Millionen mehr – ich gehe?»
Als Verwaltungsratspräsident würde ich von Herrn Vasella verlangen, dass er sechs potenzielle Nachfolger aufbaut. Wenn er kündigt, gibt es so jederzeit genügend fähige Leute, die seine Stelle übernehmen können. Hat er die sechs nicht aufgebaut, ist es ohnehin höchste Zeit, dass er geht.

Die Marktwirtschaft produziert Gewinner und Verlierer. Ist sie mit einer menschenwürdigen Gesellschaft vereinbar?
Zunächst ist die Marktwirtschaft eine grandiose Versorgungsmaschinerie. Ohne sie gibt es weder Bildung, Gesundheit noch Mobilität und Sicherheit. Selbst Massai haben heutzutage ein iPhone, dank dem die Frauen eine Chance zur Emanzipation erhalten. Es gibt Superreiche wie Bill Gates – er hat der Gesellschaft einen unendlich grösseren Dienst geleistet, als er Gewinn bezogen hat. Das Problem sind die wirtschaftlichen Verlierer – und die dürfen in einem humanistischen Staat nicht verloren gehen; das ist eine komplexe, riesige Aufgabe.

Sie waren erfolgreicher Manager und Unternehmer, Sie haben genügend Geld. Warum schreiben Sie anspruchsvolle Bücher und geniessen mit 73 Jahren nicht einfach den Ruhestand?
Geld ist angenehm, zugegeben, aber der eigentliche Lebensgenuss ist, dass ich staunen kann, neugierig bleibe, geistig produziere. Und wenn ein Physikprofessor meint, meine Physik sei Quatsch, und ein intelligenter Freund sagt, man könne meine Philosophie nicht lesen, dann kommt das warme, beruhigende Gefühl über mich, dass ich Aufgaben gewählt habe, die nie zu Selbstgefälligkeit führen werden.

Quelle: Tagesanzeiger (tagesanzeiger.ch), Autor: Hans Galli, 20.12.2013